Exclusiv im Töpferblatt:

Der Millenniumsvortrag

Von Gabi Dewald,

Chefredakteurin des

KeramikMagazin

About the Undead

and Desires

For a Definition of

Arts & Craft.

For Example:

Ceramics

Ó Gabi Dewald

 

Ein Beispiel der Vergeblichkeit

Es war im späten Sommer letzten Jahres. Am frühen Abend waren wir in dem abgeschiedenen Hochgebirgstal angekommen, hatten auf dem Weg von Bologna nach Frankfurt einen kleine Abstecher gemacht, waren für einen Abend hier herauf gefahren, bis dahin, wo alle Straßen schließlich enden. Ein Gang durch die gewitterfrische Luft, das Sonnenlicht schon rötlich, die grünen Wiesen nass glänzend, ein paar verspätete Käfer kommen unter tropfenden Blättern hervor und surren nach dem Regenguss eilig davon. Jemand treibt Kühe vorbei. Ich bleibe vor einem Haus stehen, ein aufgelassener Bauernhof. Daneben hat man ein neues, modernes Wohnhaus gebaut. Der alte Hof rottet vor sich hin. Das Dach ist schon geborsten, das Mauerwerk feucht, das Holz modrig, die Fenster dunkel, blinde Flecken.

Plötzlich kommt Leben in die Stube. Mir scheint, ich sehe die Familie, die Bewohner des Hauses. Ihre sonnengegerbten Südtiroler Bauerngesichter, ich fühle den kratzigen Nesselstoff ihrer Hemden und Röcke, rieche das rauchige Herdfeuer, das in der Ecke qualmt, wo eine Suppe kocht und sie ihre Strümpfe trocknen, sie streiten und sie lachen, ich höre ihre Lieder. Da ist das Geräusch der Löffel, die in groben Schalen schaben, ich atme die stickige Stubenluft, in der eine Handvoll Menschen Schutz und Geborgenheit sucht, versucht, sich gegen das Draußen und die abzugrenzen, sich ein Stück Menschenwelt zu definieren, ein Stück Kultur, inmitten der übermächtigen Natur zu schaffen. Ich sehe, wie sie Stämme schälen, die Ledergeschirre der Tiere fetten, wie ihre aufgesprungenen Fingerkuppen über zerzaustes Kinderhaar streichen.

Das alles war - gestern. Noch vor fünfzig Jahren sah das Leben hier so aus. Unzugänglich gelegen, lebte die Dorfgemeinschaft autark, eine Sensation, wenn jemand das Tal verließ, unvorstellbar, was man beispielsweie aus ersten Radiogeräten so alles vernahm. Doch ich begreife sehr plötzlich: Das ist Myriaden weit entfernt. Und: Es ist unwiederbringlich verloren. Niemand kann es mehr berühren. Da liegt es, ganz tief unten, wie unter einer dicken Eisschicht versiegelt, nur noch unscharf zu erkennen. Wie lächerlich scheint mir plötzlich der Versuch etwa von Museen, heutigen Menschen etwas von dieser versunkenen - fast möchte man sagen: eiligst versenkten - Welt lebendig zu halten, gar etwas zu bewahren. Vor dem Vergessen beispielsweise.

Im Dorf haben engagierte Bürger versucht, die Eigenarten der regionalen Architektur aufzugreifen und zu erhalten. Am Beispiel der in den Alpenländern weit verbreiteten Verwendung hölzerner Balkongeländer kann man ein ganzes Phänomen und die Vergeblichkeit seiner Überwindung studieren: Das Aufgreifen der Tradition besteht bestenfalls in der hilflosen Verehrung des Vergangenen. Die Proportion ist falsch, die Muster sind uniform, die Lackierung liegt wie eine Plastikhaut über dem Holz, die Farbigkeit ist verkehrt, in seiner Präzision wurde aus einem mäandernden Ornament ein martialischer Aufmarsch, aus einer verspielten, auflockernden Schmuckborte ein Patronengürtel, der sich um das Haus spannt. Sehen es die Leute in dem Dorf? Stört es sie?

Jahrhundertelang wuchs das Holz für die Häuser in den das Dorf umgebenden Wäldern; es wurde im Winter geschlagen, mit Pferden und Schlitten gerückt, Jahre getrocknet, schließlich von den einheimischen Bauern und Handwerkern abgerichtet und verbaut. Doch diese Brüstungen sind - aus skandinavischem? spanischen? deutschem Holz? - sämtlich maschinell, irgendwo in Europa, gefertigt, sie kamen palettenweise, in Plastik verschweißt mit einem Container in das italienische Bergdorf. Handarbeit, das ist bekannt, kann man sich auch im Handwerk nicht mehr leisten, sprich bezahlen. Auch hier wird rationalisiert und monopolisiert. Oftmals sind Handwerksbetriebe nur noch bessere Montagefirmen. So geht Wissen um Material und Technik, um regionale Eigenheiten und um individuelle Lösungen verloren. Selbiges läßt sich auch für Keramik finden: Was früher gedreht wurde, wird heute gegossen, was früher bemalt wurde, wird heute mit einem Abziehbild dekoriert, wo früher mit der Hand getaucht wurde, geht das Stück heute in die Spritzkabine, dabei stets das handgearbeitete Stück imitierend. Die Ergebnisse: Totgeburten, total überflüssiger Kitsch. Um klarzustellen: Ich habe weder etwas gegen die Technik des Gießens, noch gegen keramische Printtechniken oder Spritzglasuren. Doch ich habe etwas gegen Betrug und visuelle Verdummung.

Noch einmal zurück zu dem Beispiel aus Südtirol: Was mir hier ebenfalls schlagartig klar wurde war, daß die Hauptursache unseres rasend schnell vollzogenen und unumkehrbaren Bruches mit unseren eigenen Überlieferungen unser völlig veränderter Zeitbegriff ist. Also der völlig veränderte Rhythmus unserer Tage, der völlig veränderte Rhythmus unseres Lebens. Wir leben in einem Zeitraffer. Und die Zeiteinheit - die einst Tag oder Jahr oder Woche oder auch Ereignis oder Fest hieß - heißt jetzt vereinheitlichend: Termin. Zeit wird nicht länger in Perioden gemessen in denen Prozesse stattfinden innerhalb derer Wachstum möglich ist, wo etwas ruhen, keimen, reifen, trockenen, gären, mauken kann. Zeit, das ist das unerbittliche, atemlose und uniforme Stakkato standardisierter Produktionsprozesse. Der hämmernden, treibenden Takt wird dabei von der internationalen Geld- und Zinspolitik vorgegeben. Was bleibt ist die Sehnsucht nach natürlichen Rhythmen, nach Zeit-Räumen, nach nachvollziehbaren Abläufen, nach erlebbaren Zusammenhängen. Doch Traditionen und Gepflogenheiten werden nicht mehr gepflegt - wer hätte dazu noch die Zeit? - nur noch zitiert. Anstelle lebendiger Überlieferung ist bestenfalls eine sentimentale Verehrung des Vergangenen getreten, eine oft genug rückwärtsgewandte, diffuse Sehnsucht nach dem Gestern. (Das wir doch alle gerne und aus gut verständlichen Gründen verließen. Weder Sie noch ich werden glauben, daß auch nur ein Bauer aus dem eingangs zitierten Bergdorf wieder so leben wollte, wie im vergangenen Jahrhundert.)

Einzig Künstler und Kunsthandwerker, scheint mir, haben sich beharrlich, wenn auch selten mit wirtschaftlichem Erfolg, außerhalb des Zeitdiktates des modernen Lebens gestellt, haben erfolgreich die Hauptingredienz ihrer Produkte verteidigt: die Lange-Weile, die Zeit-Dauer.

Noch einmal back: to the roots

Warum? Nehmen Sie es schlicht als ein Plädoyer gegen die Langeweile. Schauen Sie sich beispielsweise die vielen internationalen Keramikwettbewerbe an. Das Stück aus Kalifornien wird sich in nichts von einem aus Großbritannien, Südafrika oder Neuseeland unterscheiden: "Global Art" tauften gelangweilte Kunstkritiker das - und ich teile ihre Genervtheit. Zum anderen glaube ich - und ich bedauere es über die Maßen - daß unser Planet durch das Einebnen kultureller Unterschiede an Vielfalt und Farbigkeit verliert. Ich spreche dabei von der Einmaligkeit und zugleich Unterschiedlichkeit der Weltsicht, wie sie sich in Jahrhunderten relativer Abgeschiedenheit voneinander herausbildete und wie sie unserer heutigen Welt Farbe verleiht. Von Eigenarten, wie sie jedem Volk aus der jeweiligen Landschaft, dem Licht, der Witterung, den Düften und Früchten eines Landes erwuchs, und wie sie jeder Region eigen und einzig sind. Was mich interessiert, ist also eine Art Artenschutz der Kreativität: Rettet die Vielfalt der Eigenart vor dem kulturellen Einheitsbrei der Internationalisierung!

Vielleicht ist man auf dem europäischen Kontinent, der sich ja gerade - und Gott sei Dank endlich - politisch und wirtschaftlich formiert und tatsächlich zusammenschweißt, auch im Augenblick besonders sensibilisiert auf das Thema des individuellen Profils in der Gemeinschaft. Aber ich habe auch als Deutsche, hineingeboren in das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit, sehr plastisch miterlebt was es heißt, von der eigenen Wurzel abgeschnitten zu sein. Insbesondere die Volkskunst war durch den Mißbrauch der Nationalsozialisten geradezu unberührbar geworden. Und gebrandmarkt durch die deutschen Verbrechen traute der Deutsche niemandem weniger als sich selbst, seinen Sehnsüchten, Emotionen und intuitiver Subjektivität. Mit Leistung, Bescheidenheit und Sachlichkeit suchte man das Vertrauen und den Wiedereintritt in die internationale Gemeinschaft zu erreichen. Ich bitte Sie, die oft als langweilig und steif geschmähte deutsche Keramik einmal unter folgendem Aspekt zu betrachten: Zu Tode erschrocken über sich selbst, sah man in Intellektualismus, Objektivismus und Internationalismus die Garanten für ernst zunehmende, anerkannte Kunst. Man knüpfte an die Abstraktion, die Maler und Bildhauer brachten das Informel, die Art brut, die Arte Povera nach vorne. Kunsthandwerkern blieb als ästhetisches Vermächtnis das Bauhaus, den Keramikern darüber hinaus insbesondere der Blick nach Japan, war es nun direkt oder über das England des Bernard Leach. Auf der Suche nach Integrität und Eigendefinition zog man sich in die Köpfe zurück. Die moderne deutsche Keramik begann sich an Abstraktionsleistungen und unsinnlichen Kopfgeburten zu überbieten. Die Argwohn gegenüber allem Figürlichen ist nur ein Symptom dafür.

Es kostete Jahrzehnte, wiederum auf die Suche nach sich selbst zu gehen. Vielleicht ist es anderen Nationalitäten unvorstellbar, daß beispielsweise eine junge Töpferei die Produktion von traditioneller Bunzlauer Ware (eine schlichte, kräftige Gebrauchsware, vorzugsweise zur Vorratshaltung und Haltbarmachung von Lebensmitteln) aufgab, weil man sich von Kunden in eine rechtsnationale Ecke gestellt sah und plötzlich als Parteigänger des Tausendjährigen Reiches Beifall fand. Unter diesen Umständen ist es nicht einfach, unbefangen zu sein und zu begreifen, daß Abstammung Wurzel und Leben bedeutet und nicht Fangarm und Lähmung meint. Tatsächlich bin ich jedoch davon überzeugt, daß die Substanz, die Einmaligkeit und die Eigenständigkeit einer gestalterischen Idee maßgeblich vom Wissen um die eigene Herkunft und dem Umgang damit abhängt .

Über die Verluste nationaler Profile und künstlerischer Vielfältigkeit hinaus steht uns jedoch mit der Nivellierung der schöpferischen Landschaft allenthalben das Verschwinden von Techniken und Materialkenntnis ins Haus und damit schließlich die Kenntnisse darüber, wie sich unsere sichtbare, haptisch erlebbare Welt zusammensetzt. In einer immer virtueller werdenden Realität, entfremdet der Erde, der Natur, auf der und von der wir doch leben - und klingt das nicht pathetisch, ja fast schon peinlich? - haben wir kein Wissen mehr über die Zusammenhänge. Kein Wissen über die grundlegenden Elemente und Materialien, aus denen sich unsere Umwelt konstituiert. Handwerk, oft genug in Feierabendarbeit oder saisonal bedingt nebenbei ausgeübt, hat hier ganz lebendig dieses Wissen gepflegt und vermittelt, weit entfernt von Spezialisierung und Arbeitsteilung. Gönnen Sie sich den Versuch und bitten sie eine Gruppe Erwachsener und Kinder ein Feuer zu entfachen und es zu hüten. Sie werden sich fragen, wie die Spezies Mensch dazu kam, ein Weltraumprogramm zu ersinnen oder schlicht: nicht zu verhungern. Wer weiß heute noch etwas über Feuer? Über Wasser und Wind? Über Säen und Ernten? Oder wie man Papier macht oder Stoff, der wärmt. Wann haben Sie zum letzen Mal das Tier gestreichelt, von dem Sie sich ernähren?

Nein, keine Angst, ich will Sie nicht in hährene Kutten stecken und beim Schein eines Kienspans Holzschuhe schnitzen lassen. Aber ich bin davon überzeugt, daß das Überleben unsere Gattung maßgeblich davon abhängt, ob wir uns Zugang zu den einfachen, elementaren Dingen des Lebens bewahren können. Man kann nur schützen, was man kennt. Wenn uns und unseren Nachkommen weiterhin in diesem Tempo das Wissen um die natürlichen Zusammenhänge verloren geht, geht damit die Wertschätzung und der Schutz nicht nur unserer natürlichen, sondern auch kulturellen Ressourcen verloren. Und wie gesagt: Man kann nur schützen, was man kennt. Meiner Meinung nach kommt deshalb, unter der unerbittlichen, weltumspannenden Diktatur der Wirtschaft und der Schnellebigkeit, gerade dem Kunsthandwerk eine neue und nicht zu unterschätzende Rolle zu.

Was Handwerk nicht mehr leisten kann, weil es nämlich sonst nicht konkurrenzfähig bleibt und Kunst nicht leisten will, weil diese primär vom Gedanklichen ausgeht, das kann der Kunsthandwerker, der vom Material her kommt und außerhalb von Produktionsabläufen steht. Ob es allerdings diesem mißachteten Genre gelingt, zu einer selbstbewußten, ja prosperierenden Position zu gelangen, wird maßgeblich von den Mulitiplikatoren, Meinungsmachern und Geldgebern in unserer Gesellschaft abhängen. Die Hoffnungen, die heutzutage in das Kunsthandwerk gesetzt werden, sind zunehmend zu finden. Ich möchte den Japaner Toshiyuki Ki-ta aus seinem Aufsatz "Tradition und Moderne" zitieren: "In einem kunsthandwerklichen Gegenstand von hoher Qualität konzentriert sich das kollektive Wissen von Jahrtausenden. Solche Gegenstände sind sozusagen die Floppy Discs vergangener Zeiten. (...) Eigentlich müßte sich die Entwicklung neuer Konzepte für moderne Produkte in der Elektronik oder Automobilindustrie stärker aus einem Verständnis alter Traditionen und Lebensweisen nähren. Um Entwürfe von besserer Qualität zu schaffen, müssen wir zu einer gewissen Balance finden."

Fortsetzung des Plädoyers: Für Kunsthandwerk

Ich weiß, daß alle Keramiker irgendwie Künstler sein möchten. Jedoch Birnen und Äpfel - wenngleich auch beide gleich köstlich - sind nun mal nicht das selbe. Zur Klärung: Mit Kunsthandwerk meine ich Dinge des täglichen Lebens, die in einem funktionalen und/ oder dekorativen Sinne nutzbar und sind angewandt werden. Ich weiß, daß der Begriff Kunsthandwerker weltweit - mit wenigen Ausnahmen - einer Beschimpfung und Herabsetzung gleichkommt. Ich weiß, daß das Genre des Kunsthandwerks spitzfingrig als degoutant und halbseiden abgelehnt und belächelt wird. Keramiker haben unter dieser gesellschaftlichen Ächtung, weit mehr als Goldschmiede, Glasbläser oder Schreiner etwa, zu leiden.

Ich habe mir einen ausgewachsenen Streit aufgehalst, als ich mich - in der Eigenschaft als Kuratorin für eine europäische Kunsthandwerks-Ausstellung - weigerte, die Arbeiten keramischer Bildhauer für diese Schau zu akquirieren. Bin ich rückwärtsgewandt? Nein. Aber ich glaube auch hier nicht an den Segen der Gleichmacherei. Vielmehr an den Sinn der Unterscheidung. Und ich glaube tatsächlich, daß wir Kunsthandwerker im eigentlichen Wortsinn heute mehr denn je brauchen. Denn hier verbinden sich materialimmanente Möglichkeiten, handwerkliche Lösungen und gestalterische Innovationen in einem Gegenstand des täglichen Lebens. Wir lernen im Umgang mit den Dingen auf beiläufige, lustvolle Art, schulen unsere Sinne und befriedigen unser ästhetisches Verlangen.

Liberalisierung war eines der große Schlagworte dieses Jahrhunderts: Nieder mit trennenden Grenzen, gegen Tabus und Ghettoisierung, Befreiung aus engen Denk- und Handlungsschemen, den Blickwinkel des anderen sehen, verstehen, mindestens vorurteilslos neben den eigenen stellen - das waren vorrangige Ziele. Und was wäre notwendiger gewesen, nachdem die Industrialisierung die Arbeitsprozesse mitsamt der Werteskala auf den Kopf gestellt hatte, als durch Rundfunk und bald auch im Fernsehen die Welt in rasendem Tempo aufeinander zuschnellte und diese beispiellose, todbringende Mischung aus Engstirnigkeit, Borniertheit und Größenwahn Europa in ein Schlachthaus verwandelt hatte?

Liberalisierung bedeutet: von Einschränkungen befreien. Es bedeutet jedoch nicht die Überflüssigkeit von Definitionen. Im Gegenteil: Diese gilt es zu überprüfen und in einem zweiten Schritt, wieder zu formulieren. Ich glaube, daß dies eine Aufgabe ist - Jahrtausende hin oder her - vor der wir im Augenblick ganz ausgesprochen stehen. Und ich glaube auch, daß dies beispielsweise eine Aufgabe von Ausstellungsmachern, Kuratoren, Juroren ist. Nicht als Dogma, aber als greifbare, diskussionsfähige Form. Wenn Ausstellungen, wie im vergangenen Herbst der des internationalen World Crafts Council in Wien, gute Absicht, aber Orientierungslosigkeit bescheinigt wird, ist das leider ein Attest, das man gerade kunsthandwerklichen Ereignissen im Zehnerpack austeilen könnte. Aus Angst, restriktiv zu wirken und ohne inneres Bild, erklärt man die handwerkliche Seite als überkommen und die kreative Seite schlägt man der Kunst zu - fertig. So produziert man Untote.

Solange Kunsthandwerk in unseren eigenen Köpfen als Second Art oder überkommene Ausdrucks- und Betätigungsform ohne eigenständige Zukunft rangiert, können wir aus der Flaute in der das Kunsthandwerk dümpelt, nicht herauskommen. Offensichtlich nutzt es wenig, wacker im Schatten der Fregatte der Freien Kunst zu segeln; vielmehr sollte man das Bedürfnis nach dem, was Kunsthandwerk leisten kann und was auch dringend gebraucht wird, fassen, formulieren und als Auftrieb nutzen: Wie keine andere Disziplin ist Kunsthandwerk dazu in der Lage, unser haptisches, visuelles und auch intellektuelles Verlangen nach den Materialien aus denen sich unsere Welt zusammensetzt, zu befriedigen. In diesem Sinne ist Kunsthandwerk eine sehr ganzheitliche Wissensvermittlung. Eines Wissens, dessen sich - aus vorgenannten Gründen - keine andere Disziplin mehr annimmt.

Ich glaube, daß die vergangenen Jahrzehnte hinlänglich bewiesen haben, daß der Versuch, Kunsthandwerk im Namen oben genannter Liberalisierung kurz und bündig zur Kunst zu erklären, nichts erbracht hat, außer daß Heerscharen verirrter Seelen ihr Rosenvasen plötzlich "Hommage à Giacometti" nennen oder ein Tablett, ausgelegt mit Schafsfell und mit sieben Tassen bestückt, merkwürdigerweise als "Meret Oppenheim Installation" firmiert. Das ist weder lustig noch originell, sondern hilflos und ärgerlich. Bestätigt es doch alle Vorurteile, die dem Kunsthandwerk gegenüber bestehen.

Der Österreichische Keramiker und Bildhauer Kurt Spurey schreibt: "Wo bleibt das Selbstbewußtsein der Kunsthandwerker? Warum drängen sie alle zur 'hehren Kunst'? Können sie mit ihren Werken nicht alleine bestehen, müssen sie erst die Weihen der Kunst erhalten, um sich anerkannt zu fühlen? Mir scheint hier eine große Förderungslücke zu bestehen. " Ich schließe mich seinem Urteil an, und ich fordere hier vor allem Kuratoren, Galeristen, Journalisten, Lehrende, Museumsleiter auf, ihre Positionen und Statement zu überdenken. Wenn mir der Professor einer Norwegischen Universität ziemlich stolz und mit Augenzwinkern berichtet, daß man die leidige Diskussion um das Kunsthandwerk und die damit verbundene Geringschätzung beendet habe, indem man den Begriff Kunsthandwerk aus dem Namen der Schule und des Fachbereiches strich und damit also eine reine Kunstschule geworden sei, dann halte ich

diese Art der Bauernschläue mittlerweile nicht mehr nur für vergeblich und naiv. Sondern ich könnte wütend werden über die Kurzsichtigkeit von Menschen, die Multiplikatoren sind und Meinungs- und Berufsbilder prägen.

Erlauben Sie mir an dieser Stelle zur Klärung der Begriff den Versuch einer Definition, der die drei, allzuoft in einen Topf geworfenen Begriff Kunst, Design und Kunsthandwerk in ihrer Unverwechselbarkeit vorstellen möchte.

Kunst ist eine erkenntnisorientierte, zweckfreie und nichts als der Weltsicht des Künstlers verpflichtete Disziplin. Ihre Relevanz beziehen Kunstwerke dadurch, daß sie das Selbstreferentielle überwinden und dem Rezipienten zur ureigenen Erkenntnis gereichen. Das Wesen der Kunst ist visionär.

Design ist eine Dienstleistung. Diese verbindet in Dingen des Gebrauches deren Funktion mit einer dem Zeitgeist entsprechenden Gestaltung. Design gestaltet Dinge des Gebrauchs neu. In dieser Neu- oder Umgestaltung trägt Design den Erfordernissen des Heute Rechnung und denkt das Morgen mit. Das Wesen des Design ist urban.

Kunsthandwerk ist eine primär materialorientierte Disziplin, in der sich Ausführung, Wahl der Mittel und Gestaltungswille die Waage halten. Der Kunsthandwerker ist primär seinem Material verpflichtet, dessen Erkundung und spezifische Verwendung er anderem vorzog. Dieses Material bindet - auch im Hinblick auf mögliche Ergebnisse. Das Wesen des Kunsthandwerk ist haptisch und intim.

Nicht der Vorgang des Definierens ist restriktiv, ganz im Gegenteil. Allerdings die damit oftmals verbundene Hierarchisierung. Ich weigere mich sowohl, diese drei Dinge - Kunsthandwerk, Design und Kunst - zu vermischen, als auch, sie in eine wie auch immer gestaffelte Rangfolge zu bringen - das allerdings ist langweilig, gestrig und überflüssig! Und es verkennt die Bedürfnisse und Anforderungen, die wir, gerade am Ende eines Jahrtausends, gehalten sind zu erkennen und zu formulieren, um Kurskorrekturen vorzunehmen und neue Wege zu beschreiten.

Ich halte es für völligen Unsinn, den Begriff des Kunsthandwerk totzuschweigen, umzuschminken oder eliminieren zu wollen. Kunsthandwerk hat ein eigenes Profil und eine eigene, unverwechselbare Aufgabe. Hier ist Selbstbewußtsein und Offensivität angebracht.

Nicht umsonst sponsert die weltgrößte Konsumgütermesse in Frankfurt das Kunsthandwerk jährlich mit einer sechsstelligen Summe. Die Pressesprecherin der Messe Frankfurt dazu: "Die Kunsthandwerker sind die Kreativ-Zelle, die das kreative Zentrum auf der Messe bilden. Hier lassen sich, früher, als in anderen Bereichen, neue Ideen und innovative Tendenzen erkennen."

Natürlich hat Kunsthandwerk seinem Wesen nach einen sehr viel schwierigen Stand, als das Design: Design - gemäß seinem Auftrag stets in hoher Auflage produziert - verspricht dem modernen Individuum einen bestimmten Grad an Individualität, der von der Masse abhebt und unterscheidbar macht, ohne, daß man dadurch angreifbar würde. Ein designter Artikel schützt mich, denn er beweist: Wohlstand, Zeitgeist und die Zugehörigkeit zu höher gestellten Kreisen. Der designte Gegenstand ist stets der Beweis der Mitgliedschaft zu einer elitären Gruppe. Die Botschaft ist: Ich bin nicht konform, aber ich bewege mich inmitten des Zeitgeschehens. Ein kunsthandwerklicher Gegenstand hingegen gefährdet mich, denn er ist nicht stromlinienförmig, sondern ein individuelles, persönliches Statement. Hier macht ein Mensch ein Ding und ein anderer wird es kaufen können. Der Kunsthandwerker folgt seiner Idee - der Designer spürt Trends auf. Design ist öffentlich - Kunsthandwerk ist privat. Design umgibt mich mit etwas, während mich Kunsthandwerk offenlegt. Design macht mich unverwundbar, Kunsthandwerk macht mich angreifbar, denn es exponiert mich. Daß Kunsthandwerk auf die intime, persönliche Sicht der Dinge besteht ist es, was die heutige Gesellschaft als peinlich empfindet und als altmodisch ablehnt. Daß Design es versteht, die innovativen Derivate vom Kunsthandwerk abzuspalten und dieses Destillat mit dem richtigen Anteil Understatement und Massenverträglichkeit zu mischen, macht es so erfolgreich.

Über die subversive Kraft des Alltäglichen

Kurz möchte ich dem Mißverständnis vorbeugen, ich sei der Meinung, Menschen, die sich mit Keramik befassen, sollten dies gefälligst als Kunsthandwerker tun und am besten Geschirr herstellen. Keramik ist ein Material, daraus kann man beispielsweise Interior Design fertigen, Dinge für Tisch und Haushalt, baukeramische Erzeugnisse, technische Keramik, keramische Plastik und Reliefs etc. Dies ist jedermanns Entscheidung, die er in der Folge auch zu verantworten hat.

Doch sei mir eine kurze Bemerkung zum Thema "Keramische Kunst" erlaubt, ein Ausdruck, den ich im übrigen für mehr als unglücklich halte (wie wäre es mit "Bronzene Kunst" oder "Hölzerne Kunst"?). Wer bildhauerisch arbeiten möchte, sollte sich als Bildhauer ausbilden lassen. Wenn er darüber hinaus eine Faible für Ton hat, kann er eine zusätzliche Spezialausbildung für diesen Werkstoff vorschalten oder anhängen. Wer sich an speziellen Keramikschulen bewirbt, sollte nicht so tun, als wisse er nicht, daß er hier in der Regel von Fachleuten in Sachen Keramik mit entsprechendem Werdegang unterrichtet wird und nicht von Malern und Bildhauern. Hier wird man zum Keramiker ausgebildet werden und eben nicht zum Bildhauer, wie an einer freien Kunstakademie. Wieso wundern sich diese Studenten, wenn sie mit einer solchen keramischen Fachausbildung nicht auf dem freien Kunstmarkt bestehen können? Immer wieder hört man, in den USA bestehe dieses Problem der Akzeptanz von keramischer Kunst auf dem Kunstmarkt nicht. Doch selbst Namen wie Voulkos oder Saxe sucht man in einschlägigen Kunstmagazinen in der Regel vergeblich...

Ich glaube nicht, daß es nicht nur die Ignoranz der Medien, der Kritik und der Galeristen ist, wenn sie sich hier selten überzeugt zeigen. Ich bekenne, daß ich selbst nur sehr selten bildhauerische Arbeiten aus Ton sehe, die mir einleuchten. Wer sich - wohlwissend, daß er das tut - jahrelang in die Nische des keramischen Gewächshauses zurückzog, braucht sich nicht zu wundern, wenn er im sauren Regen des freie Kunstmarktes schneller wie gedacht eingeht und keine Akzeptanz findet. Doch mit Absicht wählte ich dieses finstere Kapitel nicht zum Thema meines heutigen Vertrages.

Statt dessen möchte ich mich noch einem Stiefkind der Szene zuwenden, das, wie ich finde, völlig zu unrecht in keramischen Kreisen ins Abseits geriet und als niedrig geschmäht wird: das Geschirr. Was für eine bedauernswerte Verkennung der Realität, daß man es heutzutage für ehrenvoller hält, irgend einen Staubfänger zu kreieren, statt tatsächlich benötigte Gegenstände zu entwerfen und zu fertigen! Daß man es als Beleidigung der künstlerischen Potenz empfindet, wenn man sich mit der Entwicklung eines Tafelgeschirres befasst von dem fortan Menschen täglich ihre Mahlzeiten einnehmen, jedoch für eine Herausforderung, irgend eine gigantische Installation zu bauen, wie sie außer dem Künstler und vielleicht noch seine drei besten Freunde keine Seele interessiert und wie sie in der Kunstszene schon dreißig Mal so oder so ähnlich gezeigt wurde. Auch hier stehen wieder die Lehrer und die Ausbildungskonzepte mit am Pranger.

Warum gilt es als nicht zu ertragende Demütigung, wenn man sich beispielsweise mit Geschirr befasst? Die Industrie, das Design machen sich große Namen mit diesen Dingen. Ist man sich nicht der subversiven Kraft des Alltäglichen bewußt? Die Werbung beispielsweise nutzt die Wirkung des Unterschwelligen in ganz unverschämter und effektiver Weise. Und wenn ich morgens, noch halb verschlafen, lange, bevor mein visueller Sinn, geschweige denn mein Gehirn funktioniert, diese oder aber jene Tasse aus dem Schrank nehme, Tee hineinfülle und sie mit beiden Händen zum Mund führe, dann teilt sich mir soviel mit, unausgesprochen, unbewußt, dann lasse ich mich derart leiten, einstimmen, anregen, beeinflussen, daß ich am Ende nicht verstehe, wieso man die Herstellung von Geschirren auch in seiner künstlerischen Aufgabenstellung und Ausdruckmöglichkeit, gerade im Sinne eines Dialoges mit dem Benutzer/ Betrachter als derart unter Niveau ablehnt. Die haptische Qualität des Materials, die Möglichkeiten, eine Mahlzeit nicht nur als Gaumenschmaus, sondern als Augenweide, zu einem Genuß für den Tastsinn, zu einem plastischen Erlebnis zu machen, Essen als barockes Ereignis, als asketische Architektur, als die Vermählung des Innen und Außen zu zelebrieren, die Sinne zu schulen, das ganz Alltägliche als das Eigentliche und als substantielle Handlung und als Ritual bewußt zu machen - was ist daran gering und langweilig? Hier allerdings sind auch Galeristen und Ausstellungsmacher, auch die Auslober von Wettbewerben und die Medien aufgerufen, in der Öffentlichkeit mehr Aufmerksamkeit und Wertschätzung zu akquirieren. Im übrigen auch, was die Preise betrifft: Kunsthandwerk ist teuer, weil es bei der Exklusivität überhaupt nicht billig sein kann. Es ist an uns, dafür ein Bewußtsein und Foren zu schaffen, Formen der Präsentationen und Events zu ersinnenen, die das Ineinander dieser unterschiedlichen Kulturgüter und deren Unverzichtbarkeit im unserem Leben klar werden lassen. Die klassische Galerie mit Spotlight und weißem Sockel gehört - nicht nur in diesem Zusammenhang im übrigen - zu den eher überkommenen, bildungsbürgerlichen Darstellungsformen. Hier brauchen Kunsthandwerker die Unterstützung von außen, auch was theoretische Konzepte betrifft. Ich möchte an dieser Stelle Garth Clark zitierern. In einem Interview, das ich im Februar mit ihm führte, bemerkte er, daß "damit ein Künstler Kariere macht, dieser zehn, zwanzig oder hundert von Autoren, Kuratoren, Händler, Sammler, Fotografen, Ausstellungsmacher, Restauratoren braucht." Ich gebe ihm völlig recht.

Wer beispielsweise einem Mann wie dem Franzosen Claude Champy ernsthaft rät, er könne sich doch jetzt langsam und um Gottes Willen von der Idee des Gefäßes und der Benutzbarkeit seiner Keramiken lösen, der verkennt völlig den Dreh- und Angelpunkt seiner Arbeit und damit vieler Keramiker, die sich mit dem Gefäß, einem unserer ältesten Kulturgüter, beschäftigen: Das ist das Bergen, Versammeln, Bewahren und Darreichen von Inhalten. Gefäße vervollkommenen sich erst mit dem Benutzer und vervollständigen sich erst mit ihrer jeweiligen Nutzung, was sich dem Künstler als Autoren vollkommen entzieht. Dessen Einfluß endet bei der stimulierenden Wirkung, die er dem Gefäß durch die jeweilige Gestaltung mitgibt. Doch das Gefäß, auch das rituelle Gefäß, ist immer kommunikativ und offen für die Eingriffe weiterer Handelnder und auch deshalb als Metapher und Symbol in der menschlichen Gemeinschaft unersetzlich. Wie wunderbar, daß es immer wieder Menschen gibt, die sich damit befassen und neue, zeitgemäße Formen dafür finden.

In diesem Sinne begreife ich auch diese Konferenz als Gefäß, in das ich meine Thesen und Gedanken hineinlege - wie Früchte etwa. Ich hoffe, diese mögen Ihr Interesse, Ihre Neugier, gar Ihr Verlangen wecken. Vielleicht nehmen Sie das eine oder andere zu sich - ich hoffe, es möge Ihnen munden, Sie erfrischen oder kräftigen und Sie ergänzen diese Palette geistiger Speisen um weitere, vielleicht uns gänzlich unbekannte Nahrung für ein neues Jahrtausend.

Gabi Dewald, Lorsch, im März 1999