"Arbeit am Tonfeld" mit blinden Kindern

ein Erfahrungsbericht von Elke Zollitsch

Die Arbeit am Tonfeld wurde von Heinz Deuser in Rütte (Schwarzwald) aufgrund seiner Beobachtungen bei Tastübungen entwickelt. Heinz Deuser ist Professor an der Fachhochschule für Kunsttherapie in Nürtingen und Ausbilder in dieser Arbeit.

In der Arbeit am Tonfeld geht es nicht um die Herstellung eines fertigen Werkes.

Ein flacher Kasten (etwa 40 cm x 45 cm x 4 cm) mit Tonerde ausgestrichen, die mengenmäßig noch in den Händen gehalten werden kann, gibt den Händen die Möglichkeit allen Impulsen zu folgen. Eine Schale mit Wasser gehört dazu. Das Element Wasser kann wichtig sein. Die Arbeit geschieht mit geschlossenen Augen.

Im tastenden Erfahren - in der Haptik - wird der Tastvorgang zum Wahrnehmungsvorgang. Im Greifen wird Begreifen in allen Sinnen möglich.

Haptische Worte, wie z. B. er-fassen, auf-nehmen, ent-decken, beschreiben den Vorgang der sinnenhaften Bildung.In der Weise kann die Arbeit am Tonfeld grob umrissen werden. Mehr und ausführlichere Informationen erhaltet Ihr in der Dokumentation zum 3. Symposium "Therapeutische und Pädagogische Möglichkeiten mit Ton" oder direkt bei Heinz Deuser im Institut für Gestaltbildung, Sonnenbühlweg 17, 79856 Hinterzarten.

Vorwort

Mehr als zwei Jahre arbeitete ich mit blinden Kindern an der Landesblindenschule in München am Tonfeld.

Schulleiter und Schulpsychologin waren wichtige Ansprechpartner. Im Kindergarten waren wir, Joelle Kirch, Ursula Gügel und ich sehr willkommen. Von der einer Grund- und Hauptschulklasse kamen allmählich alle Schüler zur Tonfeldstunde. Die Freude einzelner Schüler an der Tonfeldarbeit wirkte ansteckend. Auch die Eltern und last not least einige Lehrer zeigten sich zunehmend interessiert für diese Arbeit. Manchmal arbeiteten 2-3 Kinder zusammen im Raum. Im Religionsunterricht hatte alle 5 Zweitklässler ein Tonfeld und ölten und salbte beim Gleichnis vom barmherzigen Samariter den Verwundeten mit Ton - jeder auf seine mitfühlende Weise. Keine Angst vor Räubern, sondern Freude am Dasein für den Anderen war spürbar.

Eine Reinigungsfrau freute sich sogar beim Putzen im Interesse der blinden Schüler über verbliebene Tonspuren im Tonfeldraum.

Aus meinen Aufzeichnungen pickte ich nun heraus, was mich anrührte und bewegte. Mir wurde bewusst, wie sehr die Kinder und ich im Gestaltkreis eingebunden waren.

Jochen (im Alter zwischen 7-9 Jahren, blind)

("Wo ist der Jochen?")

Jochens Hände flattern aufgeregt über seinen großem, sich drehenden Kopf. Er hört mich. Schwerfällig erhebt er sich, breitbeinig schwankend, mehr auf Zehenspitzen, strebt er dem Tonfeld zu, eine Hand tastend voraus. Ein Schwall von Fragen ergießt sich: "Gehört das Tonfeld dem Jochen? Magst du den Jochen? Bist du nur für den Jochen da? Darf der Jochen weinen?"....

Seine Umgebung im Kindergarten ist spürbar genervt. Die Erzieherin hat den Ehrgeiz, dass Jochen bis zum Schulanfang "Ich" sagt. Gespräche mit der alleinerziehenden Mutter und den Großeltern bringen angeblich nicht weiter; am Nachmittag hat er verschiedene Therapien. Diffuse Ängste lassen ihn nicht zur Ruhe kommen. Hysterische Weinanfälle, wenn er z. B. beim Suchen seines Catcars nicht die erhoffte Hilfe erfährt, erschöpfen alle.

Ob Jochen bei der Tonfeldarbeit Halt gewinnen kann?

"Der Ton riecht gut nach Mama"

Jochen fällt mit seinem sorgenvollen Kopf gewissermaßen ins Tonfeld. "Der Ton riecht gut nach Mama". Mit der Nase wir gebannt im Ton liegend, wischt er hastig mit beiden Händen über den Ton, gleitet flüchtig mit Wasser darüber und schlägt und spritzt wie ein Ertrinkender, der Halt sucht, auf den Ton ein. Meine Tonfeldtaufe!

"Ja, ich mag Dich, Jochen"

Seine vielen in den Wind gesprochenen "dummen Fragen" fallen im Tonfeld auf fruchtbaren Boden und münden in einem einzigen Aufschrei: "Magst du den Jochen?" "Bitte liebes Tonfeld , sag nur ein einziges Wort zu mir". "Ich bin da! Du bist das beste Geschenk auf Erden" - so begrüßt Jochen das Tonfeld. Jochen nimmt über das Tonfeld Beziehung auf. Er berührt zärtlich den Ton, er legt sich quasi hinein um zu horchen. Er spürt in der Beziehung sein Angenommensein. Hineingebettet in diesem Untergrund - hier Tonfeld, "betet" er. "Ich habe Gott im Tonfeld gehört".

Er hält Zwiesprache mit Lebenden und Verstorbenen. Er versöhnt sich und bittet um Kraft. "Hilf mir liebes Tonfeld. Ich will nie wieder streiten".

Der plötzliche Tod einer Lehrkraft ist für ihn unbegreiflich. Er sinniert: "Sie ist ein Engel. Wo ist ihr Kopf? Vielleicht ist der ganze Körper Engel geworden. Vielleicht kommt sie als Vogel wieder auf die Welt."

Er baut einen See für die verstorbene Lehrerin, spricht mit ihr, nimmt Abschied. Die Finger plätschern im Wasser. "Ich bin noch ganz jung. Gott sei Dank, der Jochen lebt. "

"Was ist wenn meine Mutter stirbt?"

Er löst sich schwer vom Tonfeld. Er küsst es zum Abschied.

Am kalten Wasserhahn lässt er sich gerne waschen. Tonspuren bleiben an ihm.

"Ich mag ganz viel Grießbrei"

Jochen greift von Mal zu Mal vertrauter und voller in den Ton. "Er riecht wieder schön."

Mit einem Tonbatzen klopft und streicht er immer wieder rund um seinen geöffneten Mund, legt den Tonbatzen ins Wasser und matscht, windet und drückt ihn durch die Hände. Dies wiederholt er, bis er in der unteren Feldhälfte eine Grube entsteht, in die er mit meiner Hilfe Wasser schüttet. Wohlgemut badet er die Hände im See, mengt und matscht darin allen Ton aus der Wasserschüssel; er lauscht den Geräuschen, taucht ein mit Nase und Mund, schleckt, knirscht Ton zwischen den Zähnen und schiebt Ton in die Nasenlöcher. "Da freut sich die Mama". Er sättigt sich am "Grießbrei" (manchmal bringe ich ihm von mir gekochten Grießbrei mit). Immer, und immer wieder gibt es Grießbrei. Nach zwei Jahren Tonfeldarbeit hat sich Jochen durch einen riesengroßen Berg Grießbrei gefressen.

"Bin ich ganz ohne Mama da?"

Jochen drückt mit aller Kraft sein Kinn in den Ton. Er stößt, schiebt und weitet mit den Kinn die Mulde im unteren Tonfeldbereich. Ich denke unwillkürlich an Presswehen. Der Druck setzt sich durch den ganzen Körper bis in die Fußsohlen fort. Er richtet sich auf und die sonst oft zappeligen Füße stehen fest am Boden. Er fragt: "Bin ich ganz ohne Mama da?"

Mir ist, als wäre ein "Kopffüßler" geboren. Das Bild Elefant taucht bei ihm auf. "Was mache ich mit meiner Kraft, wenn ich jetzt ins Heim gehe? Meine Stärke nehme ich im Herzen mit ".

"Der Mund weint"

Jochen versucht, auf meine Anregung hin, nicht wie sonst mit der Nase, dem Mund und dem Kinn in Ton zu arbeiten. Die Hände sind heute dran! Er klopft lange mit einem Tonstück in der Handfläche.

Am Ende der Tonfeldstunde sagt er: "Der Mund weint".

"Warum kann ich meine Arbeit selber machen?"

Am Tonfeld fühlt sich Jochen frei von Druck. Er entscheidet sein Arbeitstempo, er erfindet Spielregeln. Als Spielleiter entscheidet er, ob ich in seiner Welt mit den Händen oder meiner Stimme erwünscht bin. Anfangs schickt er mich im Spiel abrupt weg und sagt: "Geh raus. Ich bin gerne alleine".

Abhängigkeit und Hilflosigkeit hat er in seinem Leben zu Genüge erfahren. Auch im Heim beim Essen und Toilettengang gibt es Ärger. Am Tonfeld gewinnt es Selbstvertrauen in sein eigenes Tun und Können. So fragt er staunend beim Baggern mit Handballen: "Warum kann ich meine Arbeit selber machen?" Er ist der Bauherr und er sticht mehrmals mit dem Daumen auf den Grund. Sein Boot repariert er, bis der Motor anspringt. er steuert ein Auto, gibt Gas und sagt: "ich bin heute echt der allerfröhlichste Mensch der ganzen Welt".

"Der Geruch hat sich verändert, weil ich in der Schule bin"

Jochen besucht nun die Grundschule. Seine erfahrene Lehrerin ist für die Tonfeldarbeit aufgeschlossen. Beim Sprechen werden deutliche Fortschritte bemerkt. Neu ist die Bereitschaft, im Sand zu spielen. Jochen kann kaum die einzelnen Finger an der Hand unterscheiden, das erschwert das Erlernen und Schreiben der Brailleschrift. Innerhalb des Klassenverbandes von 5 blinden Schülern erhält er viel Einzelförderung, trotzdem wird der Leistungsabstand immer größer.

Die Familiensituation hat sich geändert. Die Mutter hat einen neuen Lebenspartner, der sich fürsorglich und verständnisvoll für Jochen einsetzt. Starke Auseinandersetzungen mit der Situation schlagen Wellen im Tonfeld. Das Baby, das erwartet wird, weckt in Jochen die große Hoffnung auf einen Freund, mit dem er spielen kann. Die großen Ängste um das Schwesterchen und die häufige Abwesenheit der Mutter treffen Jochen sehr. Er ist, wie ich höre, sehr eifersüchtig, schwierig im Verhalten und enttäuscht. er zaubert viele Male aus dem Bauch des Tonfeldes Babys, die wimmern und weine und von Jochen gewickelt und gebadet werden, für die er Grießbrei kocht und für die er der beste große Bruder ist."Von mir kriegst du alles, ja mein Kloans".....

"Wenn du bei mir bist, ist es spannend"

Jochens Tonfeld wird zu seiner "Schatzkammer". Er spricht auch von seiner Phantasiewelt, in der zaubern kann, was er will. Er stellt fest: "Wenn du bei mir bist, ist es spannend". Bilder tauchen auf, die im Tonfeld langsam deutlichere Gestalt annehmen: Ein ängstlicher Affe im Käfig, eine Ziege, ein Gänse-blümchen auf der Wiese, Fische im See, ein Hexenhaus, ein Kinderhaus und ein Erwachsenenhaus, die glitschige Rutschbahn ist wunderschön und der nasse Frosch findet die goldene Kugel im Wasser. De Frosch wird "an die Wand geknallt". Dabei werfe ich Ton auf seine Hände, bis sie verschwunden sind. Strahlend zieht er, verwandelt in einen Prinzen, die Hände aus den Tonhöhlen. - Im Wald holt er Erdbeeren und teilt sie mit mir. Eines Tages baut er einen "Jubiläumsberg", stabil mit kleinen Tonstücken aufgebaut und auf die Spitze stellt er Musikanten, die blasen. Er wird unser "Freundschaftsfest".

"Warum schimpfst du nicht?"

Wieder hat Jochen ein Baby aus den Tonfeld gezaubert, ihm das Flascherl gegeben, das Baby gebadet... da richtet er sich auf und das Baby wächst. "Jetzt soll es ein zweijähriges Kind sein". Jochen greift aktiv lustvoll in den Ton und entdeckt ganz neu das Werfen von Tonbatzen. Er hört, wie der Ton aufplatscht im Tonfeld, auf den Tisch, auf den Boden und sogar an den Schrank donnert. Ich hebe den Ton auf und lege ihn zurück. "Warum schimpfst du nicht?" Ich antworte: "Weil ein zweijähriges Kind soviel Freude an diesem Spiel hat und es nicht anders versteht". Jochen schaut gewissermaßen diesem Kind zu. Für den Schuljungen Jochen denken wir uns daraufhin ein Wurfspiel aus im Tonfeld mit Regeln aus.

Jochen spielt seine Entwicklungsstufen im Tonfeld durch und gewinnt Einsicht in seine Gefühlswelt und deren Wandlungsmöglichkeiten. Seine drei- und vierjährigen Tonfeldkinder zeigen Zornausbrüche, protestieren und schreien "nein", weil ihre Mutter sie abholt und somit das Spiel unterbricht. Jochen ist beides - Zuschauer und Akteur. Er schickt entschieden die zornigen Kinder aus dem Tonfeld.

"Jetzt ist es genug"

In einer der letzten Stunden hört Jochen, wie das Tonfeld "schön" sagt. Er küsst es, hüpft mit den Fingerspitzen rhytmisch auf dem Tonfeld, streicht beide Hände mit Ton ein und zieht mit dem Mund schwingende Bögen im Ton, so als würde er Mundharmonika spielen. er singt und legt das Ohr auf das Tonfeld. Mit dem Zeigefinger holt er Ton heraus. "Das ist ein kleines Kind, ein Frühgeborenes".

Er streicht sich damit um den Mund. "Nicht weinen, der Jochen tröstet dich". Abrupt beendet er die Stunde. "Jetzt ist es genug". Er will sich alleine waschen und verweigert jegliche Hilfe. "Und jetzt will ich hüpfen."

Unterstützt von mir hüpft er übermütig im Raum. Auch ich stelle für mich fest. "Jetzt ist es genug".